„So weit ist es schon gekommen, dass man für eine Esso kämpft“

Eine Kritik von Clara Anders (Studierende Uni Freiburg)

In Kooperation mit dem Deutschen Seminar der UniversitätFreiburg besuchen StudentInnen im Rahmen eines Seminars die Gastspiele des Festivals. Ihre Kritiken veröffentlichen wir hier ungefiltert.


Das Zitat aus Sylvi Kretzschmars Stück „Esso Häuser Echo“ verweist auf die absurde Situation, in der eine Esso-Tankstelle in Hamburg zum Symbol des heterogenen Protests gegen soziale Umschichtung und Verdrängung wird. In Hamburg entzündet sich 2010 der Konflikt um die so genannten Esso-Häuser im Zuge der Gentrifizierung des Viertels. Aufgrund der Veräußerung der Häuser, kommt es zu Abrissplänen, die für 110 Mietparteien in St. Pauli den Entzug des Wohnraums bedeutet. Auch die namensgebende und zum Kieztreff umfunktionierte Esso-Tankstelle wird ersatzlos demontiert. „Wir bauen irgendwas Neues“ wird der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte, Andy Grote, im Stück rezitiert. Doch keiner der Bewohner oder Sympathisanten wünscht etwas „Neues“, denn sie fürchten den Bau einer „Disneyworld“, die ebenso gut in Köln, Honolulu oder Shanghai stehen könnte.

Das Eröffnungsstück des 9. Festivals „Politik im Freien Theater“ 2014 in Freiburg transportiert die Konflikte des sozioökonomischen Strukturwandels durch choreografisches Klang- und Bewegungstheater über die Grenzen von St. Pauli hinaus. Das Stück, zunächst als direkte Agitation auf den bevorstehenden Abriss der Häuser konzipiert, hat sich mittlerweile zu einem Requiem auf die weiterhin bestehenden Konflikte durch Gentrifizierung entwickelt. „Esso Häuser Echo“ verschreibt sich der Aufgabe, den Leidtragenden urbaner Umgestaltungen ein Echo zu geben und die Schallwellen weit hinaus zu befördern.

Ein Chor von zehn dunkel gekleideten und ernst blickenden Frauen tritt auf die Fläche. In den Händen halten sie Megaphone, aus denen das Rauschen verlassener Räume und leerer Flure, das Knacken lebloser Materialien dringt. Wie ein Schwarm bewegen sich die Frauen zunächst auf der Fläche, die ihnen das Publikum zum Agieren lässt. Engagierte Formationen annehmend, laufen sie in dynamischer, fast vorwurfsvoller Manier in die Zuschauergruppen hinein. Unwillkürlich weichen die Zuschauer beiseite. Die Frauen fordern Raum und Gehör. Ihr zudringlicher Habitus, der sie wie politische Aktivistinnen erscheinen lässt, übergeht die strenge Abgrenzung zum Publikum. Es ist als wollten Sie sagen: Ihr seid nicht nur Zuschauer, sondern ebenfalls Teil einer Gesellschaft, die urbane Prozesse befördert oder stoppt. Auch ihr seid betroffen, auch ihr könnt verdrängt werden.Die Konzeption des Stücks basiert auf dem alleinigen Auftreten des Frauenchors, durch welchen das Motiv des Echos tatkräftig wird. Bereits in der Antike hat der Chorus die Aufgabe, das vordergründige Schauspiel zu bekräftigen und zu vervollständigen. In der Moderne marginalisiert, kehrt der Chor in der Postdramatik zurück auf die Bühne; allerdings mit neuen Aufgaben. In „Esso Häuser Echo“ ist der Frauenchor die einzige menschliche Figur. Die entstandene Leerstelle der fehlenden Schauspieler wird absichtlich belassen. Dieses postdramatische Arrangement birgt die Rückkoppelung an die inhaltliche Dimension der vertriebenen Bewohner der Esso-Häuser, die bereits verdrängt und dezentralisiert sind. „Der Wandel ist vollzogen“, nur ihr Echo hinterlassen sie dem Chor.

Durch die Megaphone schallen Geräusche, Parolen und Gesänge, zusammengesetzt aus den Zitaten von Betroffenen und Verantwortlichen. In rhythmischer, teils poetisch anmutender Sprechweise, präsentiert sich der Chor als eine Inklusion von Subjektivitäten. Der Chor ist weniger eine einheitliche Figur als vielmehr ein fluides Ensemble mit fragmentarischer Struktur. Mal personifizieren die Frauen mit schwenkenden Megaphonen in einer Reihe stehend, die vielstimmige Diskussion der heterogenen Bewohnergruppe, die einig im Protest die Reihen schließt. Mal stammelt der Chor Halbsätze, wie „Äh. Stoppen lässt sich‘s natürlich nicht“ und figuriert die ratlosen Stadtpolitiker und Immobilienspekulanten. Mal tanzt der Chor ausgelassen und mit fröhlichen Gesichtern, als wären sie die Leichtigkeit der zukünftigen Bewohner. Ein weiteres Mal schlagen die Frauen wütend mit den Fäusten auf den Boden, während sie bedrohlich wirkende Parolen wie „Es reicht jetzt“ in ihre Megaphone flüstern. Der Chor wird zum Wiedergabemedium einzelner Phasen des Prozesses und zum Abbild des Abwesenden.

Die Rhythmisierung der Klanglandschaft, kontrastiert durch Sentenzen völliger Stille, unterstreicht die Nähe zum Agitprop-Theater. Doch der Chor ist kein Subjekt, welches Aussagen wertet oder polemisiert, sondern agiert durch das dynamische Zusammenwirkung von Bewegung und Klang. Die Synthese dieser maßgebenden theatralischen Instanzen in „Esso Häuser Echo“ artikuliert sich in dem engen Zusammenspiel von Chor, Choreografie und Echo. Das Theaterstück wird zum Widerhall des soziopolitischen Konflikts auf künstlerischer Ebene.

Unter dem Festival-Thema „Freiheit“ wirft das Stück „Esso Häuser Echo“ den Blick auf das elementare Feld der sozialen und kulturellen Verortung durch selbstgewählten Wohn- und Lebensraum. Weiterhin hinterfragt das Stück ein Gemeinschaftswesen, welches zeitlose Beliebigkeit und Gleichheit vor die Wichtigkeit persönlicher Identifizierung und heterogener Gesellschaft stellt. Mit dem Nachhall zurückgelassener, heulender Sirenen stellt sich die Frage, ob wir frei sind, wenn wir in einer Gesellschaft leben, in der wir uns gegenseitig aufgrund ökonomischer Vorteile den Lebensraum entziehen. Freiheit bedeutet nicht, die Besitzfrage zu klären, wem die Stadt gehört. Freiheit besteht darin zu verhindern, dass Zeit verschwindet.

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