Dries Verhoeven über seine Beweggründe für „Ceci n’est pas…“
In Vorbereitung auf sein Projekt „Ceci n’est pas…” schrieb der niederländische Künstler Dries Verhoeven einen Text über seine Beweggründe hinter diesem Projekt. Es ging ihm darum, seine eigenen Gedanken zu ordnen und dem Zuschauer Hintergrundinformationen zu geben. Er beantwortet damit gleichzeitig Fragen, die ihm zu diesem Projekt gestellt worden sind.
Dries Verhoeven – Ceci n’est pas…
In „Ceci n’est pas…” zeige ich Ausnahmen von der Regel. In einer Vitrine inmitten des öffentlichen Lebens einer Stadt zeige ich Menschen, wie wir sie normalerweise nicht zu sehen bekommen. Manche Passanten werden wegschauen, andere hingucken und sich fragen, was sie an dem Bild, das sie zu sehen bekommen, eigentlich stört. Warum wirken bestimmte Bilder, die vor zwanzig Jahren noch ohne weiteres gezeigt werden konnten, heute verstörend? Sind wir etwa weniger tolerant als früher? Oder ist uns unsere naive politische Geradlinigkeit verloren gegangen? Ist es richtig, dass unsere Kinder bestimmte Dinge nicht zu sehen bekommen, oder übertreiben wir unseren Beschützerdrang? Wie bei einer ethnologischen Ausstellung gibt es zu jedem Bild einen Begleittext. Mit den dargestellten Tabus versuche ich, die DNA unserer Zeit sichtbar zu machen. Einige Bilder werden weniger verstören als andere. Manche Darstellungen mögen krasser wirken, als ich mir jetzt vorstellen kann. Ich betrachte die Vitrine als ein Atelier, in dem ich täglich mit einem neuen Bild ausprobiere, wie ich das vorbeikommende Publikum an seiner empfindlichsten Stelle treffen kann.
Warum konfrontiere ich die ahnungslosen Passanten mit kontroversen Bildern?
Die erste Frage, die ich mir stelle, lautet: Womit werden wir normalerweise auf der Straße konfrontiert? Was für Bilder sehen wir da normalerweise? Schauen wir uns Schaufenster oder Plakate an, finden wir fast immer Bilder, die uns beruhigen. Man könnte sagen, dass der öffentliche Raum fast vollständig vom Kommerz übernommen worden ist, von Marken, die uns die schönere, glücklichere Version von uns selbst vorhalten. Diese Idealbilder nisten sich in unserem Unterbewusstsein ein und beeinflussen unsere Vorstellungen von dem was gut, appetitanregend, was schön, glückbringend ist, und regen uns außerdem an, bestimmte Produkte zu kaufen. Vielleicht spornen sie uns gleichzeitig an, die Abbildungen mit uns selbst zu vergleichen und beeinflussen damit unser Selbstbild. Kann es sein, dass unser Wahrheitsbild langsam eingetrübt wird, wenn in der Öffentlichkeit vor allem Erfolg kommuniziert wird? Viele Menschen haben damit kein Problem. Vielleicht durchschauen sie auch einfach die Mechanismen nicht. Sie finden sich problemlos in den gezeigten Bildern gespiegelt oder werden dadurch in gute Laune versetzt. Was geschieht jedoch, wenn Menschen genau damit Probleme haben? Wenn zum Beispiel eine Muslima nicht einer Hunkemöller-Reklame auf der Straße gegenüber stehen will, oder wenn das vorgespiegelte Glück für einen depressiven Menschen oder Invaliden so unerreichbar ist, dass die Reklamebilder ihn nur noch mehr mit der eigenen Unfähigkeit konfrontieren. Mich beeindrucken Menschen, die die Straße zum Podium machen, auf dem sie demonstrieren, dass die wirkliche Welt ganz anders ist. Wie der Graffiti-Künstler Banksy, der uns für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht bringt, so dass wir das, was alle für „normal“ halten, hinterfragen, statt zu bejahen, was uns vorgesetzt wird.
Wäre es besser, auch komplexeren Dingen des Lebens einen Platz im öffentlichen Raum zu geben?
Ich glaube schon. Ich glaube nämlich, dass es gefährlich ist, wenn wir die Schattenseiten unseres Daseins verstecken oder ausblenden. Wenn ich in Ländern wie den USA oder Österreich bin, fühle ich mich unwohl, weil mir überall nur Schönheit und Glück entgegenstrahlt. Ich frage mich dann, was unserem Blick durch den Zuckerguss entzogen wird. Wie viele Keller sind unter den grünen Hügeln verborgen? Wie viele Morde werden in Schulen von jugendlichen Amokläufern begangen, weil sie nicht akzeptieren können, dass der sprichwörtlich „amerikanische Traum“ für sie nie wahr werden wird. Mit anderen Worten: Was, wenn die sichtbare Welt zum Theaterstück gemacht wird, zu einer Art Truman Show. Ich denke, dass es sehr bedauerlich wäre, wenn sich dieser Prozess auch in den Niederlanden vollziehen würde, wenn wir den Ausnahmen von der Regel keinen Platz mehr geben würden, wenn unsere Straßen zu Schaufenstern eines idealisierten Lebens würden. Früher war die Straße auch ein Ort der Begegnung, wo man gemeinsam unter einem Baum über die Schwierigkeiten des Daseins sprechen konnte.
Vielleicht können wir, wenn wir in Kontakt mit unseren eigenen Ängsten wären, auch unser größtes Tabu brechen und dem eigenen Tod ins Auge blicken. In Sri Lanka sprach ich mit einem Buddhisten, der in Dörfern, in die auch viele Touristen kommen, bewusst die Überbleibsel des Tsunamis stehen ließ. Ich fragte ihn, warum sie nicht beseitigt würden, worauf er antwortete, dass die Ruinen notwendig seien, um uns daran zu erinnern, dass nichts ewig ist. Er erzählte, dass es für ihn als Buddhist wichtig ist, die Endlichkeit immer vor Augen zu haben. Darum trank er seinen Tee aus einer Tasse mit einem Sprung. Ich glaube, dass man der Konfrontation mit solchen Bildern in den Niederlanden ganz leicht ausweichen kann. Noch vor fünfzig Jahren waren Witwen und Witwer durch ihre schwarze Kleidung erkennbar. In vielen anderen Ländern befinden sich Friedhöfe mitten in der Stadt, und alte Leute wohnen in der Nähe ihrer Kinder. Wenn man an einem Ort lebt, an dem man dem Gedanken an den Tod ausweichen kann, und man dann irgendwann an Krebs erkrankt, trifft einen der Schock vermutlich sehr viel härter. Man ist auf eine solche Katastrophe nicht vorbereitet. Wenn wir uns mit beruhigenden Bildern umgeben, ist die Konfrontation mit einer unerwarteten Wirklichkeit ungleich grösser. Vor kurzem bekam ich den Reklameprospekt eines Bestattungsinstituts: ein Senior schaut von seinem Motorrad lachend in die Kamera. Warum kein Foto von einem Grabstein? Es ist derselbe Mechanismus, der Hilfsorganisationen dazu gebracht hat, keine hilflosen afrikanischen Kinder mehr abzubilden. Glücklich lachende Kinder sorgen für höhere Spenden. Beim Anblick menschlicher Not oder Verwüstung verkrampfen wir.
Wenn es so ist, warum wohl?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir eine Handelsnation sind? Ich denke, dass die Negierung des Todes unsere Wirtschaft am Laufen hält. Besonders jetzt, in Krisenzeiten, halten Menschen Ausschau nach Zeichen der Hoffnung. Politiker versuchen uns davon zu überzeugen, dass das Schlimmste überstanden ist. Und wenn uns allen zusammen gelingt, den Gedanken an unseren Untergang zu beschwören, dann wird die Ökonomie auch wirklich wieder gesunden. Das ist die Ironie. Wenn wir uns gemeinsam lange genug „Ik houd van Holland“ (das TV-Programm „Ich liebe Holland“) anschauen, wird es den Niederlanden möglicherweise tatsächlich besser gehen. Bilder, die als Abbildungen erfolgreichen Lebens erkennbar sind, geben uns ein positives Lebensgefühl. Das erklärt auch, denke ich, das Entstehen des neuen nationalen Sentiments. Es beruhigt uns, und wir kaufen daraufhin auch wieder mehr Produkte. Das Abenteuer, der Kontakt mit dem Unbekannten, rückt in den Hintergrund.
Vielleicht werden wir zu stark beeinflusst von der amerikanische Bildkultur, bei der es ein starkes Tabu gibt. Bilder, die Unvollkommenheit, Schwäche, Untergang zeigen, sind verpönt. Das gilt für die Abbildung eines alten sterblichen Körpers genauso gut wie für einen Invaliden im Nachtklub oder küssende Menschen mit Down-Syndrom. Unvollkommenheit weist bereits auf den Tod hin, so wie das im 17.Jahrhundert ein Vanitas-Stillleben tat. Aber tabuisiert sind im Grunde auch schon ganz friedliche Bilder, wie das eines Mädchen in Badehose auf dem Schoss ihres Vaters, oder das eines betenden Muslims auf der Straße. Wir finden es schwierig, so etwas anzuschauen, weil in diesen Bildern eine potentielle Gefahr lauert. Wir aber wollen Beruhigung.
Ist es nicht auch eine Überlebensstrategie, dass man hellhörig wird und wachsam, wenn Gefahr droht?
Wir müssen herausfinden, wann unsere Ängste überzogen und wann sie berechtigt sind. Es gibt nämlich Bilder, die eine irreale Angst erzeugen. Bei dem Mädchen und ihrem Vater geht es nach meiner Meinung in 9 von 10 Fällen um eine irreale Angst. Väter scheuen heutzutage die Meinung anderer und meiden darum den Körperkontakt mit ihren Kindern. Den Kindern wird dadurch indirekt signalisiert, dass der Körperkontakt mit ihrem Vater etwas Zweideutiges hat, und dass davon eine Gefahr ausgeht. Darum scheint es mir sinnvoll, in einer Stadt dieses Bild zu zeigen. Es kann die Menschen zum Nachdenken darüber bringen, was da „anrüchig“ sein soll. Ein „Angstbild“ kann, wenn man darüber nachdenkt, seine negative Kraft verlieren.
Fürchte ich, dass die Menschen, die meine Bilder betrachten lediglich einen leichten Schock verspüren, dass das Ganze also zu oberflächlich ist?
Im öffentlichen Raum braucht es „schwere Geschütze“, wenn man Menschen dazu bringen will, dass sich in ihren Köpfen und in ihren Körpern etwas bewegt. Manche Leute erschrecken, wenn sie mit dem, was ich tue, konfrontiert werden. Bei jedem Bild, das ich kreiere, hoffe ich, die Kontroverse übersteigen zu können. Aber ich weiß, dass das schwierig ist: Gehe ich von der allgemeinen Gleichgültigkeit der Passanten aus, die ein subtiles poetisches Bild gar nicht wirklich wahrnehmen, oder muss ich mich auf die Wut derer einstellen, die emotional so stark aufgewühlt werden, dass sie gar nicht mehr wirklich über das Bild nachdenken können? Ich hoffe, dass ich Menschen dazu bringen kann, über das „Warum“ eines Schocks nachzudenken. Dass gewisse Bilder heute – auch für mich – ein Tabu sind, sagt etwas Wichtiges über unsere Zeit aus. Früher hat man Bilder akzeptiert, die wir heute vehement ablehnen. Mit den Tabus bringe ich die DNA unserer Zeit ins Bild. Das versuche ich durch die Begleittexte in den Vitrinen zur Sprache zu bringen und damit den Betrachtern zu helfen, aus einer anderen Perspektive auf die Bilder zu blicken.
Wenn die Bilder auch für mich ein Tabu darstellen, müsste ich mich dann nicht eigentlich auch selbst verachten?
Ich denke, es ist gut und richtig, dass wir Dinge, die wir lieber nicht sehen wollen, objektiv darstellen. Mir fällt es zum Beispiel ausgesprochen schwer, gewalttätige Kinder zu sehen. Ich weiß, dass Kinder u.a. auch Krieg spielen, um ihre Energie auszuleben, und dass wir im Grunde von gewalttätigen Computerspielen wenig zu befürchten haben. Aber wenn ich Kinder hätte, würde ich ihnen diese Art von Unterhaltung verbieten. Ich würde panisch reagieren. Den Gedanken, dass in einem Kind Gewalt steckt, kann ich nur schwer ertragen. Und genau so schwer fällt es mir, zu akzeptieren, dass es irgendwann Krieg geben könnte, und ich oder die Kinder von heute sich daran beteiligen müssten. Gleichzeitig bin ich mir der Tatsache bewusst, dass es auch in diesem Jahrhundert zu einem Krieg kommen könnte.
Ich habe da eine meiner empfindlichsten Stellen. Einerseits bin ich davon überzeugt, dass die Geschichte zyklisch verläuft. Nach einer Hochkonjunktur folgt eine Zeit der Verzweiflung und des Nationalismus. Wir ziehen uns dann auf bekanntes Territorium zurück und schließen aus, was uns vermeintlich in Gefahr bringen könnte. Wir können heute noch ohne weiteres die Wiederholung von Abläufen erkennen, die es in vergangenen Jahrhunderten gegeben hat. Andererseits kann ich einfach nicht akzeptieren, dass ich in einer solchen Zeit lebe, und nicht in der Lage bin – selbst dann nicht, wenn ich alle Kräfte mobilisiere – diese Entwicklung aufzuhalten oder zu verändern. Ich gebe lieber den Fabrikanten von Nintendo die Schuld an der potentiellen Gewalttätigkeit von Kindern, als dass ich akzeptiere, dass sich schon vor Jahrzehnten eine wachsende Feindseligkeit abzeichnete, und dass sich außerhalb meiner Einflusssphäre neue Kriege ankündigen.
Gibt es Bilder, die jetzt ein Tabu darstellen und früher nicht?
Ich glaube in der Tat, dass es Bilder gibt, die vom „vom Aussterben bedroht“ sind. Und der Gedanke, dass meine Vitrine sie zu bewahren versucht, gefällt mir. Ich vermute mal, dass wir in den 70er und 80er Jahren im Umgang mit dem Unbekannten noch wesentlich toleranter waren. Gesetzlich haben wir geregelt, dass Homosexuelle heiraten dürfen, aber die Buntheit und jede Verrücktheit scheint aus dem Straßenbild verschwunden zu sein. Wo ist der nackte Mann auf Rollerskates geblieben, der vor zehn Jahren durch Amsterdam rollte? Den ausgesprochen expliziten Sex im niederländischen Film, gibt es den noch? Eine Art neue bürgerliche Moral scheint entstanden zu sein, in der jeder toleriert wird, solange er sich nicht extravagant benimmt. Besetzte Häuser werden geräumt, Immigranten sollten besser nicht zu sehr an der eigenen Kultur festhalten. In der Kunst spüre ich, dass wir als Künstler vorsichtiger geworden sind, dass wir weniger wagen, weil wir uns nach dem Subventionsgeber richten, oder dem Geschmack des großen Publikums oder dem des Galeristen, und dass wir darum weniger impulsive, weniger kuriose, sonderbare, verrückte und lästige Werke schaffen, weil man die nämlich „aus dem Augenblick heraus“ schaffen muss. Auch der Künstler scheint heute ökonomisch motiviert zu sein. So gilt die geistige Anarchie wieder als ein Tabu, und es fehlt das Bewusstsein dafür, dass auch der Abriss Kraft hat. Wo gibt es noch das Animalische, das nicht zu Begründende in der Kunst? Wo ist Fluxus geblieben? Wo ist Jan Wolkers? Das Tabu für den Künstler mit seiner auch destruktiven Kraft gab es natürlich schon in vergangenen Jahrhunderten. War die Befreiung der 70er/80er Jahre am Ende nur ein Zwischenspiel von kurzer Dauer?
Das Tabu Behinderung
Dem Tabu, mit dem alles belegt wird, was irgendwie aus dem Rahmen fällt, begegnen wir überall. Die Möglichkeiten des „machbaren Lebens“ haben dafür gesorgt, dass Behinderte zur Ausnahme werden. Seit dem Flockentest stellt sich die Frage, warum jemand noch ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringt. Die Abtreibung wird gesellschaftlich eher akzeptiert als die Abweichung. Damit verschwindet langsam und allmählich der Schmerz aus dem Straßenbild. Wenn wir dann im Urlaub einem Mensch ohne Gliedmaßen begegnen, geraten wir (für einen Augenblick) in Panik. Wie sollen wir auf so etwas reagieren? Kann sich diese Person selbst retten? Tragen wir Verantwortung dafür? Die Toleranz wurde in den Niederlanden institutionalisiert: Der Versorgungsstaat bot eine Zeitlang die Lösung für viele Unannehmlichkeiten. Die Freiheit des Denkens ist damit zwar eingebunden ins System, aber ist es dann noch die Freiheit unseres Denkens?
Die diskutable Geschichte
Und dann sind da noch Bilder aus der Geschichte, die wir am liebsten auslöschen würden. Ich habe in der Schule so gut wie nichts über das Hinmorden der Indonesier in den sogenannten „politionellen Aktionen” nach dem 2.Weltkrieg gehört, durch die wir versucht haben, unsere Kolonie zu behalten. Das Bild, das wir über das 17. Jahrhundert vermitteln, ist vor allem eins von einem Land in Wohlstand. Davon, dass dieser Wohlstand auch auf Sklavenhandel aufgebaut war, ist kaum die Rede. Es gibt in den Niederlanden kein großes Sklavereimuseum. Das einzige niederländische Wort, das in viele andere Sprachen übernommen wurde, ist „Apartheit“. Wie alt ist eigentlich die sprichwörtliche holländische Toleranz? Was das betrifft, geht Deutschland bewusster mit seiner Genozidvergangenheit um. Ich will damit nicht sagen, dass wir uns in Schuld und Scham wälzen sollten. Es geht einzig um das Bewusstsein, dass das Böse von jedem von uns Besitz nehmen kann. Es ist arrogant, anderen Ländern wegen der Menschenrechtslage wie ein Polizist auf die Finger zu klopfen, wenn man gleichzeitig den Bezug zur eigenen Geschichte aus dem Auge verloren hat. Die Sklaverei wurde vor 150 Jahren abgeschafft, das liegt gerade mal fünf Generationen zurück.
Der Schwarze Piet, der den Nikolaus begleitet
Vier Wochen im Jahr werden wir mit einer besonderen Seite unserer Geschichte konfrontiert; dann nämlich, wenn der „Schwarze Piet“, der schwarzgeschminkte Knecht des Nikolaus, durch die Straßen zieht. Mir war die Diskussion darüber immer schnell lästig. Komm schon, nicht maulen, das ist doch nur Nostalgie! Engstirnig und kleinlich kamen mir die Diskussionen darüber vor, ob es den Piet noch geben dürfte oder nicht. Aber seit ich mit ein paar dunkelhäutigen Jungens gesprochen habe, frage ich mich, was es für eine Minderheit bedeutet, als Knecht abgebildet zu werden. Wenn man im Alltag immer wieder darum kämpfen muss, als gleichwertig akzeptiert zu werden, was bedeutet es dann, wenn man bei einem Volksfest als fröhlicher Akrobat und als Knecht auftreten darf? Wie wäre es wohl, wenn „Jüdchen“ dem Nikolaus helfen würden, also Knechte mit Kippas und baumelnden Locken? Würden wir es sonderbar finden, wenn die jüdische Gemeinschaft dagegen in Aufruhr geriete?
Das Witzige ist, dass wir in den letzten Jahren eine politisch korrekte Version des Schwarzen Piet kreieren wollten. Es ist jetzt zum Beispiel kontrovers, ihm goldene Ohrringe und einen surinamischen Akzent zu geben. Die Afro-Frisur wurde durch schwarze Locken ersetzt. Und in der Schule singen die Kinder jetzt: „Wie zoet is krijgt lekkers, wie stout is de koek“ „Wer brav ist, bekommt Süßes, wer böse ist ‘nen Keks“. Im alten Original erhält das böse Kind jedoch ‚de roe‘ – die Rute. Die Darstellung des Bösen in der Form der Rute ist verschwunden, aber damit ist Piet natürlich zum simplen Clown geworden, wenn auch noch immer so schwarz wie Russ. Jedes Kleinkind sieht auf der Straße doch sogleich den „Schwarzen Piet“, wenn es einem Surinamer begegnet.
Die Tradition des Schwarzen Piet in seiner heutigen Form stammt erst aus den 40er Jahren. Die Kanadier, die das Land befreiten, organisierten ein Sinterklaasfest (Nikolausfest), bei dem Schwarze Piete in großen Scharen mit Nikolaus mitliefen. Ist es nicht an der Zeit, der farbigen Gemeinschaft entgegenzukommen, und den schwarzen Piet nach 80 Jahren blau oder grün zu schminken? Bei diesem sogenannten beschützen der Tradition habe ich einen nationalistischen „Rita Verdonk-Geschmack“ im Mund. (Eine rechte Politikerin, die alles Fremde ausschließen wollte und eine eigenen Partei gegründet hat.)
Oder bin ich jetzt schon wie ein Amerikaner, der das Böse einfach aus dem Straßenbild verbannt? In Washington wurde ein niederländisches Nikolausfest mit „Schwarzen Pieten“ verboten …
Shit ja. Es scheint so, als hätte ich mich jetzt in die Enge manövriert. Ganz ehrlich, ich habe mehr Mühe damit, dass alles Unbequeme einfach unter den Teppich gekehrt wird, als mit dem „Schwarzen Piet“. Es ist natürlich reine Theorie, aber wäre es nicht großartig, wenn wir jedes Jahr Anfang Dezember die Gelegenheit nutzen würden, unseren Kindern etwas über unsere Geschichte zu erzählen? Ich würde die Sklaverei gern im Straßenbild zeigen, ebenso wie den sterblichen, den sexuellen und den missgebildeten Körper. Wir sollten das alles nicht länger tabuisieren. Lasst uns den Schmerz nicht länger wegputzen oder schön verpacken und mit einer rosa Schleife versehen. Das ist möglicherweise eine viel größere Beleidigung als das schlichte Präsentieren all dessen, was uns als Menschen und als Niederländer ausmacht. Wenn das nicht möglich ist, wenn der schwarze Knecht keinen Anlass dazu bietet, über unsere sklaventreibenden Ahnen zu reden, dann lasst uns lieber einen blauen Schlumpf aus ihm machen.
Spielt es eine Rolle, wie ich mich persönlich gegenüber den verschiedenen Bildern verhalte?
Nein. Ich bin kein Moralist, der die Meinung des Zuschauers verändern will. Ich glaube, dass ich im Ausdenken und Beschreiben der Bilder neben ihm stehen sollte. Ich denke, dass der Buddhist mir etwas Wichtiges sagt, wenn er aus einer Tasse trinkt, die einen Sprung hat. Aber gleichzeitig bin ich der Niederländer, der zu Hause eine formbetonte Design-Küche hat. Ich will dem Zuschauer zeigen, dass möglicherweise ein Widersinn in sein und mein Leben gekommen ist. Und das ist etwas, dem wir anno 2013 als Gemeinschaft nicht gern ins Auge sehen, Punkt. Das ist unsere Situation, ganz abgesehen von der Frage, ob das jetzt unglaublich gut oder ganz schlecht ist.